Nachtcafé vom 21.03.2013   Liste aller Gäste       

Ernst Sieber
Pfarrer, Ehrenpräsident Sozialwerke, Autor, Maler und Landwirt 

Ernst Sieber Der Auftritt von Ernst Sieber im «Volksstimme»-Nachtcafé war eine Mischung aus Talk, Predigt und Klamauk. Egal ob er redete, rief oder schwieg: Der Zürcher Obdachlosenpfarrer hatte sein ­Publikum im Sack.

bas. Als Erstes jauchzte er in den ihn entgegenbrandenden Applaus hinein, als er die Obere Fabrik in Sissach betrat. Der Zürcher Obdachlosenpfarrer Ernst Sieber war Gast im 99. «Volksstimme»-Nachtcafé – und beileibe kein einfacher Gesprächspartner für Gastgeber Robert Bösiger. Selten beantwortete er eine Frage; meist erzählte er etwas, was er halt erzählen wollte, kündigte einen Witz an, der dann aber doch erst einige Anekdoten später kam, flirtete mit der Barkeeperin, die ihm ein Gläschen Wein brachte, sprach mitten im Satz den Fotografen an und liess seinen Sohn Jethro Sieber gleich zu ­Beginn ein Stück auf dem Saxofon spielen.
Sieber wusste mit seiner unkonventionellen – bei Pfarrern sollte man das Wort «anarchistisch» vielleicht nicht verwenden – Art bestens zu unterhalten. Das zahlreich erschienene Publikum hing förmlich an seinen Lippen, egal ob er seine Stimme laut rufend in der Oberen Fabrik erschallen liess, ob er eine Grimasse schnitt oder ob er eine Kunstpause einlegte.
«Fünf Minuten Redezeit sind für einen Pfarrer schon sehr wenig», wiederholte Sieber eine Antwort, die er vor mehr als zwanzig Jahren dem damaligen Nationalratspräsidenten Hans Rudolf Nebiker gegeben hatte, als dieser den ehemaligen EVP-Nationalrat an die Redezeitbeschränkung erinnerte. «Ich habe immer zuerst den lieben Gott gefragt. Wenn der zu etwas Ja sagte, war es mir egal, was die Politiker sagten», legte er seine Haltung dar.

Auf dem zweiten Bildungsweg
Aufgewachsen im zürcherischen Horgen, arbeitete der heute wohl populärste Pfarrer der Schweiz zuerst als Bauernknecht, bevor er auf dem zweiten Bildungsweg die Matur nachholte und Theologie studierte. «Ich habe gelernt, dass Gottes Büez auch im Dreck anfangen kann», so Sieber. In den 1960er-Jahren begann sein Engagement für die Obdach­losen, Drogensüchtigen und Randständigen der Gesellschaft – «die Letzten», wie er sie selber nennt. Schon seine Mutter habe «den Letzten» Suppe gegeben: «Man merkt doch, wenn Menschen einen anrufen.»
Der umtriebige 86-Jährige erzählte von seinen Aktivitäten beim Pfuusbus, geisselte den Neoliberalismus, erinnerte daran, dass das letzte Hemd keine Taschen habe. Viele Fragen, die Gastgeber Bösiger aufgeschrieben hatte, musste dieser allerdings überspringen – die Redezeitbeschränkung für den Pfarrer griff  auch in der Oberen Fabrik nicht.
Doch auch wenn Sieber den Gesprächsverlauf gänzlich selbst bestimmte und auch die Fragen aus dem Publikum zum grossen Teil nicht wirklich beantwortete, unterhielt er bestens und verzauberte das Publikum mit seiner charismatischen Art. Dies traf auch zu, auch wenn die Zuhörer oft vielleicht nicht jene Informationen über diesen schillernden Herrn auf der Bühne erhielten, die sie sich wünschten. So erfuhr man beispielsweise zwar, dass Pfarrer Sieber in Afghanistan war, dort von Taliban umarmt wurde und eben gerade nicht nach Bin Laden gesucht hatte – was aber die Absicht seiner Reise gewesen war, das verriet er nicht.
Mit Witz und Charme brachte der Geistliche seine Ansichten an den Mann und die Frau und spielte mit der Sprache. Sieber konnte sogar den Bericht über einen Selbstunfall  in eine lustige Anekdote verwandeln; diesen erlitt er im vergangenen Jahr und fährt seither nicht mehr selber Auto, sondern lässt sich chauffieren.

Vom Rahmen zum Kreuz
Siebers Auftritt war der Auftritt einer eindrücklichen, energiesprühenden Persönlichkeit und ein lautes Plädoyer für die christliche Nächstenliebe. «Die Liebe sperrt nicht ein», sagte er und untermalte seine Aussage bildlich mit einem Rahmen, den er auseinandernahm und in ein Kreuz verwandelte.
«Wir sollen jetzt das tun, was einer vor 2000 Jahren getan hat», gab Sieber seinen Zuhörern mit auf den Weg. «Gottes Welt ist nicht nur in der Kirche, sondern die Welt ist Gottes Kirche», rief er. Er ist und bleibt eben Pfarrer.

Bilder zum Nachtcafé mit Ernst Sieber finden Sie in unserer Galerie auf www.volksstimme.ch

Volksstimme Nr. 36 / 2013