Dominique Gisin
Ex-Skirennfahrerin
«Ich hatte oft das Messer am Hals»
Die Ex-Skirennfahrerin Dominique Gisin musste in ihrer Karriere viele Rückschläge hinnehmen. Wieso sie die Motivation nie verlor und dank ihrem steinigen Weg etwa die Liebe zur Fliegerei entdeckte, erzählte die Abfahrts-Olympiasiegerin im «Volksstimme»-Nachtcafé
«Fast täglich habe ich einen Flashback und erinnere mich etwa an die Kälte oder den Duft des Schnees von Lake Louise zurück – mitten in einer Analysis-Vorlesung», sagt die Ex-Skirennfahrerin Dominique Gisin. Es sind solche Momente, die ihr aus ihrer über zehnjährigen Karriere in Erinnerung geblieben sind. Nicht die Podestplätze. «Für mich war das Resultat nie spannend. Hauptsache, ich fuhr so schnell und so gut wie möglich.»
Heute besteht ihr Alltag jedoch nicht mehr aus Streckenbesichtigungen, Konditionstrainings oder Physiotherapien, sondern aus Zahlen und Formeln. Im «Volksstimme»-Nachtcafé stellte sich Gisin den Fragen von Gastgeber Severin Furter, der erstmals durch den Anlass führte. Die Abfahrts-Olympiasiegerin mit Baselbieter Wurzeln blickte zurück auf ihren Abfahrts-Olympiasieg in Sotschi und erzählte, welchen Projekten sie sich heute widmet und wieso sie keine Trainerkarriere anstrebt.
Steiniger Weg nach Sotschi
Bis zum Höhepunkt ihrer Karriere musste Dominique Gisin so manche Hürden meistern: Kreuzbandriss, Ermüdungsbruch der Kniescheibe, Innenbandriss, Tibiakopffraktur, und, und, und?… – die Liste von Gisins Verletzungen ist lang. «Ich bin nicht unzerbrechlich, aber ich heile schnell.» So verlor die Engelbergerin nie die Motivation, zurück auf die Piste zu kehren. «Der Schmerz, nicht Skifahren zu können, war schlimmer als der Schmerz in den Knien.»
Technisch und körperlich erholte sie sich jeweils schnell. Doch die Verletzungen zehrten an den mentalen Kräften: Vor den Rennen blockierte der Körper. «Ich hatte eine rationale Angst, die schwierig zu überwinden war.» So tastete sich die Abfahrtsspezialistin Millimeter für Millimeter zurück ans Limit heran, zeitlich perfekt abgestimmt auf den 12. Februar 2014. «Ich wusste, die Olympiaabfahrt von Sotschi war meine letzte grosse Chance. Ich dachte nur: Jetzt fährst du in der Hocke bis in Ziel – egal, was passiert», erinnert sich die 30-Jährige. Ihr Wille hat sich ausgezahlt: Mit dem Olympiasieg erhielt sie die Bestätigung, dass sie den richtigen Weg gegangen ist. «Jedes Mosaiksteinchen war am richtigen Ort. Für mich und meinen Mentalcoach kam der Sieg nicht so überraschend, wie für viele andere.»
Gisin hatte des Messer oft am Hals, was sie hin und wieder zu unvernünftigen Entscheidungen veranlasste. «Meine Verletzungen im Teenager-Alter hätten zu dümmeren Zeiten nicht sein können. Ich bin durch alle Strukturen gefallen.» Doch sie beklagt sich nicht über ihren Leidensweg. «Während meiner Trainingspausen bekam ich Einblicke in Bereiche, die sonst nie möglich gewesen wären.» Sie spricht etwa ihre Liebe zur Fliegerei an, die sie eher zufällig entdeckte. «Es hat viel mit Physik und Mathematik zu tun, das gefiel mir schon immer.»
Zwischen Sieg und Spital
Derzeit macht Gisin die Berufspilotenausbildung und ist als Botschafterin fürs Rote Kreuz im Einsatz. Zudem widmete sie sich in den vergangenen Monaten ihrem Buch «Making it Happen» – das Werk zu ihrem Vortrag, indem sie zusammen mit dem Sportpsychologen Christian Marcolli auf den Weg von Engelberg nach Sotschi zurückblickt und ihn analysiert. «Zu Beginn war ich skeptisch, ob es meinen Erguss überhaupt braucht.» Die vielen Anfragen stimmten sie jedoch um. «Es wurde zur Herzensangelegenheit», so der Bücherwurm begeistert. Die meiste Zeit beansprucht momentan aber ihr Physik-Studium an der ETH: «Es ist hart und fordert viel ab. Die Idee, dass ich mit Fleiss etwas wettmachen kann, ist schnell verflogen.»
Ganz ohne Skisport hält Dominique Gisin es dennoch nicht aus: «Ich versuche, jedes Wochenende auf den Skiern zu stehen. Sehe ich länger als zwei Wochen keine Berge, bekomme ich Entzugserscheinungen», sagt sie mit einem Schmunzeln. Zudem bleibt sie dank ihren Geschwistern Michelle und Marc, die beide im Ski-Weltcup fahren, mit der Szene verbunden.
So sehr sie das Leben als Spitzensportlerin vermisst: Ein Comeback kommt für Dominique Gisin nicht infrage – weder als Athletin noch als Trainerin. «Als Hilfestellung könnte ich mich aber durchaus sehen», so die Engelbergerin. Es sei jedoch schwierig, als weibliche Trainerin den Respekt der Männer zu gewinnen. Und bei den Frauen halte sie der «Zickenkrieg» vor diesem Schritt ab, wie sie sagt. Nichtsdestotrotz war der Respekt gegenüber anderen Athletinnen und Athleten immer sehr gross. «Sieg und Spital liegen sehr nahe beieinander.» So hält Gisin nicht viel von Konkurrenzkämpfen. «Viele sagten, ich sei zu lieb und sollte hartnäckiger sein. Doch ich messe mich mit dem Berg, nicht mit anderen.» Ihre Art scheint anzukommen: Mit ihrer fröhlichen, bodenständigen Natur vermag es die Ex-Skifahrerin, alle in den Bann zu ziehen. Auch vergangenen Donnerstag im Nachtcafé.