Nachtcafé vom 13.09.2018   Liste aller Gäste       

Alex Wilson
Schnellster Schweizer 

Alex Wilson «Und das nur für eine Bronzemedaille»

Alex Wilson kam als 15-Jähriger von Jamaika in die kalte Schweiz. Erst musste er Deutsch lernen. Inzwischen redet er sich mit seinem «kaputtigen Deutsch» in die ­Herzen der Schweizer. So auch beim «Volksstimme»-Nachtcafé.

Es hat verbales Spektakel versprochen. Wer hat Alex Wilsons Sprüche an der Leichtathletik-Europameisterschaften in Berlin nicht gehört? Diese Interviews und sein sympathisches Wesen motivierten rund 150 Personen für das Nachtcafé in der oberen Fabrik in Sissach, wo der schnellste Schweizer Auskunft gab. «S isch hurekrass, dass so viele Lütt cho sind. Chrigel (Anm: Christian Oberer, sein langjähriger Trainer und Vaterfigur) het gseit, es sind öppe 50 Lütt oder so.»

Und diese wurden nicht enttäuscht. Während einer Stunde gab Wilson Jürg Gohl und abschliessend dem Publikum bereitwillig und ehrlich Antwort. Sportlich mache ihm die EM-Bronzemedaille weh. «Sechs Tausendstelsekunden sind wenig, aber der Unterschied zwischen Silber und Bronze ist gross.» Er will mehr. Wäre er mit dem dritten Rang zufrieden, müsste er sofort aufhören.

Der entscheidende Schritt, die (bisher) letzten Zehntel und Hundertstel herauszuholen, war der Wechsel vor zwei Jahren nach London. Anstelle von zwei Stunden Training täglich waren es nun sechs. Morgens pünktlich um sieben Uhr beginnt das Training mit einer Stunde Yoga, danach Aufwärmen, Laufschule, Trainingsläufe. Am Nachmittag zwei Stunden Krafttraining – und das jeden Nachmittag. Das war für Wilson hart. Manchmal hat er den Wechsel bereut. Trotz seines enormen Selbstvertrauens zweifelte er, das schaffen zu können. Er sei nahe am Aufgeben gewesen.

Wenn man ihn reden hört, ist es nicht erstaunlich, dass er keinen Mentaltrainer braucht. «Wenn dir das Selbstvertrauen fehlt, bist du chancenlos», sagt der Sprinter und erzählt ein wenig über die Psychospiel­chen unmittelbar vor den Starts. Er ist überzeugt, die 100 Meter unter zehn Sekunden laufen zu können. «Es fehlt nur noch ein Zehntel. Wenn ich davon nicht träumen würde, könnte ich gleich aufhören mit dem Sport.»

Das Schlimmste ist das Abnehmen

Der neue englische Trainer habe ihm zehn Kilo Gewichtsreduktion verordnet. Süsskartoffeln, Fisch, Poulet und Salat steht in der Wettkampfvorbereitungsphase fast jeden Tag auf dem Menüplan. «Glaub mir, ich kann es auch manchmal nicht mehr sehen. Weisst du, wie viele Nächte ich hungrig ins Bett gegangen bin? Und das für nur eine Bronzemedaille.»

Im vergangenen halben Jahr ist er zwanzig Mal auf Doping kontrolliert worden. Stets negativ. Er wolle lange leben und sei nicht ängstlich. Aber vor den negativen Folgen von Doping habe er Angst. Auch deshalb kommt Doping nicht infrage. Wilson trinkt zudem keinen Alkohol.

Auf die witzigen Antworten im Fernsehen unmittelbar nach den EM-Sprints angesprochen erklärte er: «Da stehe ich noch voll unter Adrenalin. Und was soll ich da sagen? Soll ich lange überlegen? Nein! Da sage ich: ‹Isch Scheisse gsi› und nicht ‹Das war mega gut›. Ich sage immer die Wahrheit, denn die Wahrheit fällt mir am schnellsten ein.» Seine Interview-Clips auf Youtube werden häufiger angeklickt als diejenigen von Roger Federer oder von Fussball-Natitrainer Petkovic, wie Moderator Jürg Gohl bemerkte.

Von der Wärme in die Kälte

Alex Wilson kam als 15-Jähriger vom warmen Jamaika in die kalte Schweiz. Die Umstellung war gross. Trotz seiner dunklen Haut spüre er keinen Rassismus. «Basel ist eine offene Welt.» Dank einem gutem Umfeld fand er den richtigen Weg, lernte Deutsch, ging zur Schule, absolvierte eine Landschaftsgärtner-Anlehre und setzte danach voll auf die Karte Sport. 2010 erhielt er den Schweizer Pass und absolvierte die Sportler-Rekrutenschule. Übermorgen Donnerstag feiert er seinen 28. Geburtstag. Er sei damit im besten Sprinteralter. Dieses liege zwischen 27 und 30 Jahren.

Seit er so schnelle Zeiten laufe, könne er auch gut vom Sport leben. Zahlen nennt er keine. Seine einfache Erklärung: «Über Geld reden Schweizer nicht gerne, und ich bin ein Schweizer.»

Den ersten Schweizer-Meister-Titel lief er mit alten Nagelschuhen von Simone Oberer, der mehrfachen Schweizer Meisterin und Tochter von Trainer Christian Oberer. Inzwischen kümmern sich drei Manager um seine Karriere, einer für internationale Belange, zwei für hiesige Angelegenheiten. Alex Wilson ist verheiratet, hat einen Sohn und ein Haus in Riehen.

Volksstimme Nr. 102 / 2018