Liselotte Lüthi
Marronifrau
«Marroni müssen den Hals hinunterschleichen»
Bis vergangenes Jahr stand Liselotte Lüthi-Degen im Liestaler Stedtli hinter ihrem Marronistand. Als Gast im «Volksstimme»-Nachtcafé erzählte die 78-Jährige Berührendes, aber auch Vergnügliches aus ihrer 58-jährigen Zeit als Marronifrau.
Er sei noch in den Windeln gelegen, sagte Moderator und «Volksstimme»-Chefredaktor Jürg Gohl, als Nachtcafé-Gast Liselotte Lüthi die ersten Marroni im Stedtli in Liestal verkaufte. Die heute 78-Jährige stand bis vergangenen Winter 58 Jahre lang am Marronistand – dies bei Wind und Kälte. Nur wenn es wie aus Kübeln gegossen habe, erzählte Liselotte Lüthi im Nachtcafé der «Volksstimme» vom vergangenen Donnerstag in der Oberen Fabrik in Sissach, sei sie zu Hause geblieben.
Schon früh musste die Marronifrau, die in Liestal aufgewachsen und zur Schule gegangen ist, in ihrem Elternhaus Verantwortung übernehmen. Sie musste, da ihre Mutter an den Rollstuhl gefesselt war, als Zehnjährige den Haushalt führen und den jüngeren Bruder beaufsichtigen. Da blieb auch keine Zeit, eine Lehre zu absolvieren. «Wir waren mausarm und litten Hunger», schaute Liselotte Lüthi beim Gespräch mit Jürg Gohl ohne Groll auf ihre Jugendjahre zurück. Als der Marronibrater und Scherenschleifer Giovanni Piola, der im gleichen Haus wie die Familie Degen wohnte und bis ins hohe Alter Marroni verkaufte, seinen Stand zum Kauf anbot, entschieden sich die Degens, den Stand zu kaufen.
Fünf Tonnen Marroni pro Saison
Schon mit zehn Jahren habe sie ihrem Vater geholfen, «häissi Marronni» an die Kunden zu bringen. «Stundenlang habe ich zu Hause von Hand Kastanien eingeritzt und Verkaufstüten gefaltet», erzählte Liselotte Lüthi. Mit 19 Jahren übernahm sie schliesslich den Stand von ihrem Vater und trug mit dem Verkauf der Marronis etwas zur Aufbesserung des maroden Haushaltsbudgets bei.
In guten Zeiten habe sie innert sechs Monaten gegen fünf Tonnen der heissen Marroni verkauft. Neben dem Verkauf sei sie immer auch Seelentrösterin gewesen und habe sich in den 58 Jahren als Marronibraterin die vielfältigen Nöte und Probleme der Kunden angehört. Es sei vorgekommen, dass sie über eine bevorstehende Scheidung früher Bescheid wusste als der betroffene Ehemann. Eigentlich sei sie ein ganz normaler Mensch, sagte Liselotte Lüthi am Donnerstag. Die Presse habe sie zum Original stilisiert. Das habe dazu geführt, dass sie immer wieder, sei es auf der Skipiste oder auf ihren Reisen, zum Beispiel auf dem Flughafen in Chicago oder in Barcelona, als «die» Marronifrau erkannt wurde.
Zu gröberen Zwischenfällen rund um ihren Marronistand sei es nie gekommen, sagte Liselotte Lüthi. Ausser vielleicht, als sie einem bekannten Liestaler Fabrikantensohn, der die Marronischalen achtlos auf der Strasse entsorgte, eine Ohrfeige verpasste: «Er hat sich Jahre später wieder bei mir gemeldet, hat mir das Du angetragen und mir erklärt, die damalige Ohrfeige habe ihm gutgetan.»
Kunden nicht mehr so gesprächig
Nach 58 Jahren lässt sie es gut sein mit dem Marronibraten. «Die Qualität der Kastanien ist immer schlechter geworden. Schuld daran ist die Edelkastanien-Gallwespe», erklärte sie. Nur Topqualität sei bei ihr auf den Rost gekommen, damit, wie sie sagte, die fertige Marroni beim Kunden quasi «den Hals hinunterschleicht». Zudem sei es immer schwieriger geworden, mit den Kunden ins Gespräch zu kommen: «Die Leute sind zunehmend verschlossener geworden. Der ernsthafte Schwatz hat mir immer mehr gefehlt.»
Auf die Frage von Nachtcafé-Moderator und «Volksstimme»-Chefredaktor Jürg Gohl, ob es schwierig sei, als Original durchs Leben zu gehen, entgegnete Liselotte Lüthi: «Nicht ich, die Menschen haben ein Original aus mir gemacht.» Aber sie könne alle angehenden Originale beruhigen: «Es schmerzt überhaupt nicht, eine Figur des öffentlichen Lebens zu sein.»