Madeleine May Kunin
US-Botschafterin in der Schweiz
Eine diplomatische Liebeserklärung
Sie ist US-Botschafterin in der Schweiz, ehemalige Gouverneurin des Bundesstaates Vermont, eine Bekannte des Ehepaars Clinton, Grossmutter, Präsidentin einer Umweltorganisation und hat ihre familiären Wurzeln in der Schweiz. Madeleine Kunin hat dem zahlreichen Publikum im Nachtcafé einen Einblick in ihr vielfältiges Leben und ihre Tätigkeit als Botschafterin gegeben.
dom. Schweizer Schokoladetafeln, die sie im Zug liegen liess und Freunde, die am Zürcher Bahnhof zum Abschied winkten. Dies sind die Erinnerungen von Madeleine Kunin an den Tag, an dem sie als sechsjähriges Mädchen 1940 mit ihrer Mutter und den Geschwistern die Schweiz verliess. Erinnerungen, die sie am Donnerstag abend im bis zum letzten Platz besetzten Nachtcafé in Sissach erzählte. Aus Angst vor Antisemitismus machte sich die jüdisch-schweizerische Familie Kunin damals auf nach Amerika.
1996, 56 Jahre später, reiste Madeleine Kunin wieder in ihr Geburtsland, diesmal mit dem Diplomatenpass im Gepäck. Als US-Botschafterin hatte sie während drei Jahren die Vereinigten Staaten in der Schweiz vertreten. Kunin übernahm ihre Aufgabe just zu einer Zeit, da die Beziehung zwischen den beiden Ländern wegen den Holocaust-Geldern an einem historischen Tiefpunkt angelangt war. Nach dreijähriger Tätigkeit wird die Botschafterin im August nun die Schweiz wieder verlassen.
Kunin hatte am Donnerstag einen anstrengenden Tag hinter sich, als sie im Nachtcafé dem «Volksstimme»-Redaktor Rolf Wirz in charmanter, aber stets diplomatischer Art Fragen beantwortete. Morgens ein Treffen in Bellinzona mit Tessiner Gastronomen, mittags dann ein Vortrag in Genf über Frauen in der Wirtschaft, nachmittags ein Interview mit der Presse in Bern und schliesslich die Fahrt nach Sissach - Alltag einer Diplomatin. Auch der lockere Rahmen des Nachtcafés war für die Botschafterin nicht Freizeit. Sie beantwortete dort ebenfalls als Diplomatin die Fragen zu den Sachthemen. Einzig als sie von ihrer Kindheit oder den Enkelkindern erzählte, blitzten am Donnerstag abend Facetten der Privatfrau Madeleine Kunin auf.
Schwyzerdütsch
Die ehemalige Gouverneurin von Vermont zeigte trotz terminreichem Arbeitstag keine Spur von Müdigkeit. Ihre ersten Worte galten aber nicht der Politik der grossen, weiten Welt, sondern ihrem Deutsch. «Mis Schwyzerdütsch isch nit so gut», entschuldigte sich die engagierte Frau beim Publikum. Was eine Protestwelle unter den Zuhörern auslöste. Denn Kunin hat das Schweizerdeutsch in den 50 Jahren USA nicht verlernt.
Nach dieser Aufwärmphase liess Kunin anschliessend ihre ersten Tage als Diplomatin in der Schweiz Revue passieren. Diese waren, wie erwähnt, geprägt von der einem sibirischen Winter ähnelnden Beziehung zwischen der Schweiz und den USA. «Ich hatte nicht erwartet, dass die Angelegenheit mit den nachrichtenlosen Bankkonten ein derart grosses Thema würde», meinte die Botschafterin rückblickend. Ein Thema, das auch ihre persönliche Vergangenheit berührte: auf der ersten Liste der namenlosen Bankkonten stand der Name ihrer Mutter.
«Heute ist die Beziehung zwischen den beiden Ländern wieder gut», meinte Kunin. Ein Erfolg, den diplomatische Kreise zu einem grossen Teil auch der engagierten Frau zuschreiben. Die Botschafterin glaubte ihrerseits, dass die Schweiz aus der ganzen Angelegenheit gelernt habe, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen.
Doch nicht nur die Angelegenheit mit dem Nazigold hatte Kunin anfangs ihrer Botschaftertätigkeit erstaunt. Sie sei auch überrascht gewesen, wie isoliert die Schweiz in Europa sei. «In Zukunft muss sich die Schweiz entscheiden, in welche Richtung sie punkto Europa gehen will», meinte die Botschafterin mit einem Blick nach vorne. Die diplomatische Wahl der Worte liessen dabei keine Zweifel aufkommen, dass Kunin die Schweizer Zukunft in und nicht ausserhalb der EU sieht.
Lewinsky: eine Tragödie
Neben den politischen Themen interessierte am Donnerstag abend auch die Beziehung von Kunin zu den Clintons. Genauer gesagt, ihre Einschätzung von Clintons Beziehungen zu den Frauen. Kunin kennt die Clintons persönlich aus ihrer Zeit als Gouverneurin in Vermont. Der amerikanische Präsident war damals ihr Amtskollege in Arkansas. Kunins Fazit zur Lewinsky-Affäre: «Sie war eine Tragödie, doch Clinton hat immer noch die Unterstützung des Volks und das zählt.»
Kunin liess schliesslich das Publikum im Nachtcafé auch wissen, dass sie als Diplomatin nicht nur rund um die Uhr politische Arbeit leisten müsse. Sie geniesse auch die Schweiz, vor allem die schöne Landschaft. Etwas, das ihr persönlich ganz am Herzen liegt, ist die US-Botschafterin doch Präsidentin einer Umweltschutzorganisation, die sich aktiv für Umwelterziehung einsetzt. Diese Aufgabe werde auch eine der Hauptbeschäftigungen sein, die sie nach ihrer Rückkehr in die USA aufnehmen werde, erzählte Kunin. Zudem werde sie als Gastdozentin unterwegs sein und viel Zeit mit ihrer Familie verbringen. Als Erinnerungen an die Schweiz werde sie die vielen tollen Bekanntschaften und die Landschaftseindrücke mitnehmen, offenbarte Kunin zum Schluss des Gesprächs. Und fügte lachend hinzu: «Ich werde in der USA wohl die stets pünktlichen Schweizer Züge vermissen.»
Volksstimme Nr. 55 / 1999