Augenschein vom 31.07.2003   Liste aller Augenscheine       

Keine Käseglocke über die Sissacher Fluh stülpen

Keine Käseglocke über die Sissacher Fluh stülpen Ein Totholzhaufen am ausgelichteten Waldrand.
Wo suhlt sich ein Wildschwein? Warum liegen am Waldrand grosse Holzhaufen herum? War um ist der Kuckuck immer seltener zu hören? Diese und viele weitere Fragen beantwortete Revierförster Peter Schmid am Augenschein im Naturschutzgebiet um die Sissacher Fluh. Mit der erfolgreichen Brut eines Wanderfalkenpaars konnte er gar eine ornithologische Sensation vermelden.

gr. «Waren das wirklich die Wildschweine? Oder haben da die Jäger nachgeholfen?» Einer der Teilnehmer des fünften «Volksstimme»-Augenscheins will nicht so recht glauben, dass die etliche Quadratmeter grosse, aufgewühlte Fläche im Waldboden alleine das Werk der Wildschweine ist.
Der Sissacher Revierförs ter Peter Schmid versicherte jedoch, dass die Schweine sich ihre Suhle selber gegraben haben und die se auch rege benutzen: «Wildschweine und auch Hausschweine sind sehr reinliche Tiere, warum sie immer mit dreckig assoziiert werden, ist völlig unverständlich.» Die Tiere wälzen sich im feuchten Lehm und wenn er trocken ist, reiben sie sich an Baumstämmen – so werden sie ihre Hautparasiten los. Die Schweine suhlen sich immer an der gleichen Stelle – und auch ihr Geschäft verrichten sie immer an den gleichen Orten.

Waldrand nicht gleich Waldrand
Bevor Schmid die Gruppe zur Suhle führte, erklärte er, warum der Waldrand bei der Voregg im Vergleich zum ge wohnten Erscheinungsbild et was unaufgeräumt wirkt. Auf einem Streifen von 15 bis 25 Metern Breite seien alle grossen Buchen entfernt worden. Damit entstehe ein breiter Übergang mit einem Krautsaum und Büschen. Totholz wird als Le bensraum für viele Kleinlebewesen liegen gelassen. Ohne Mensch würde es überall so aussehen, wenn sich der Wald sukzessive auf das offene Land ausbreiten würde.
Der Waldrand bei der Voregg ist nun das erste Teilstück des Naturschutzgebiets, wo der Übergang zum Kulturland so gestaltet wurde. Innerhalb der kommenden 15 Jahre soll dies überall geschehen. Da der Streifen auf Dauer aber immer mehr verwaldet, muss nach einem gewissen Zeitraum wieder nachgeholfen werden.
Apropos nachgeholfen – die Bezeichnung der Schutzzone heisst explizit Nutz- und Schutzgebiet: «Wir wollen keine Kä seglocke über die Sissacher Fluh legen», so der Förster. Das hat verschiedene Gründe: es gibt Biotope, die nur dank Unterhalt durch den Mensch so erhalten bleiben, wie sie sind. An anderen Plätzen etwa sollen alte Formen der Waldbewirtschaftung nachgestellt werden.

Nadelholz kam in Krisenzeiten
Schmid wusste vieles zum Thema Einwirkung des Menschen auf den Wald zu erzäh len. So etwa, wie es nach dem Zweiten Weltkrieg zur vermehrten Pflanzung von Fichten kam: «Traditionellerweise ist der Tafeljura der optimale Buchen standort. Da das Bu chenholz aber viel schwieriger zu verarbeiten ist, wurden hier in der Region zu Krisenzeiten immer mehr Nadelbäume ge pflanzt.»
Dass nun überall im Wald Flecken zu finden sind, auf denen nur Fichten stehen, mag Schmid im Nachhinein nicht als Fehler ansehen: «Es ist wichtiger zu wissen, warum das damals gemacht wurde, als es zu verurteilen. Vielleicht sagen die Leute in vierzig Jahren, dass das Naturschutzgebiet nichts gebracht hat. Heute wissen wir es auch nicht besser.»
Der Förster warnte zudem davor, im Zusammenhang mit den Fichten das Wort Monokultur in den Mund zu nehmen: «Das ist gar nichts im Vergleich zu Deutschland.» Dort werde das Wort «Waldackerbau» verwen det, um die quadratkilometergrossen Fichtenkulturen zu be zeichnen. Der Begriff «Monokultur» relativiere sich so oder so, sagte Schmid: Wenn sich die Natur verjünge, spriessten rund 100000 Pflanzen auf einem Quadratmeter Waldboden, nach einigen Jahren seien noch zehn Pflanzen da. Wie im «Tännli garte», wo die Fichten mittlerweile nur noch sehr locker stehen – wie ein waldkundiger Au genschein-Teilnehmer wusste.

Den Kuckuck zurückholen
Das Erscheinungsbild des Waldes habe sich im Laufe der Jahrhunderte durch die unterschiedliche Bewirtschaftung immer wieder verändert, so Schmid. Heute etwa sei der Baumbestand viel dichter. In der Vergangenheit habe man die Bäume viel früher geschlagen, da man die dünneren Stämme einfacher verarbeiten konnte. So entstand der so genannte Niederholzwald – dessen ausgedünnter Baumbestand vielen Vo gelarten entgegengekommen sei. Wie zum Beispiel dem Kuckuck – seine Wirtsvögel hät ten dort die idealen Lebensbedingungen vorgefunden.
Geplant sei, einen Teil des Schutzgebiets wieder in diesen Zustand zu versetzen, so Schmid. Das hilft dem Bestand des Kuckucks oder auch dem Rot holzwürger. Schliesslich lasse der Vogelbestand viele Rückschlüsse über den Zustand des Waldes zu, sagte der Förster.
Der Teil des Waldes hingegen, wo sich die Wildschweinsuhle befindet, werde einfach sich selber überlassen. Die Sissacher Bürgergemeinde habe diese Art des Naturschutzes schon vor dreissig Jahren praktiziert – nach einem Rutsch in der Nähe der Fluh sei am be troffenen Waldstück nichts mehr gemacht worden. Ob sich das bewähre, werde sich zeigen, sagte Schmid weiter. Extremer Sturm oder extreme Trockenheit könnten einem nicht bewirtschafteten Waldstück jedoch arg zusetzen.
Hand angelegt wird auch am Gebiet direkt unter der Fluh wand. Der Geröllkegel unter der Fluh droht zu überwachsen. Dies sei jedoch nicht erwünscht, da dieser Typ Lebensraum sehr selten sei, so Schmid. Er biete etwa Eidechsen und Schlangen wie der Ringelnatter, möglicherweise sogar der Juraviper, eine Heimat.
In diesem Jahr war an der Fluhwand übrigens eine absolute Sensation zu finden. Ein Wanderfalkenpaar hat dort seine Brut aufgezogen – eines der wenigen der Schweiz, so Schmid: «Nun kann ich es sa gen, die Jungen sind ausge flogen.» Bei solch seltenen Funden sei absolute Diskretion höchstes Gebot, denn die jungen Falken sind für die Falk nerei begehrt: 3000 bis 6000 Dollar würden für einen Jungvogel bezahlt.

Gebiet wird laufend erweitert
Nun sei geplant, dort die Büsche und Sträucher zu entfernen, dass das Biotop in seiner lichten, offenen Form er halten bleibe. In vorliegenden Fall habe man das Glück gehabt, dass der Geröllkegel lange von den umliegenden Landwirten ge nutzt wurde, um Belagsmaterial für die Feldwege zu holen. Daher sei der Kegel immer in Be wegung geblieben und nicht zu stark verwachsen.
67 Hektaren soll das Naturschutzgebiet dereinst umfassen. Zurzeit reicht es von der Sissacher Fluh bis zur Ruine Bischofstein und der Rickenbacher Fluh. Zum Wintersinger Naturschutzgebiet «Heidegrebere», dem ältesten Naturschutzgebiet im Kanton, besteht ein Korridor. Auch Teile von Böckter Wald sollen darin eingeschlossen werden – das Gesuch liege aber noch beim Kanton.

(Bild Michael Greilinger)

Volksstimme Nr. 91 / 2003