Augenschein vom 19.07.2013   Liste aller Augenscheine       

«Volksstimme-Augenschein» im Chienbergtunnel

«Volksstimme-Augenschein» im Chienbergtunnel Strasseninspektor Urs Hess (rechts) zeigt der «Volksstimme»-Leserschaft die Stabanker.
Dass der Verkehr nicht das Einzige ist, das sich im Tunnel bewegt, ist allgemein bekannt. Die Besucher des «Volksstimme-Augenscheins» wissen nun genauer, mit welchem System man der eigenwilligen Geologie des Chienbergs den ­Garaus machen will.

Für einmal zu Fuss durch den Ort, wo sonst täglich 13?000 Autos mit 80 Kilometern pro Stunde durchfahren – diese seltene Gelegenheit bietet sich den «Augenschein»-Teilnehmern am Dienstag. Wie Bergwerkarbeiter mit Helm und Warnweste ausgerüstet, stösst die Gruppe 900 Meter tief in den Chienberg vor. Vor der Führung warnt Strasseninspektor und ehemaliger Landratspräsident Urs Hess: «Keine Türen öffnen! Ausser Sie wollen die Polizei und Feuerwehr auf den Plan rufen.»
Es herrschen gefühlte 30 Grad, unter der Fahrbahn kühlt es merklich ab. «Es weht ein angenehmes Lüftchen», meint ein «Volksstimme»-­Leser. Wir sind im Fluchtweg, sozusagen ein Tunnel unter dem Tunnel. Die Richtung zum Notausstieg lässt sich an Pfeilmarkierungen an der Wand ablesen. Es herrscht ein leichter Überdruck, damit bei einem Fahrzeugbrand kein Rauch in den Fluchtstollen gelangen kann. Der Stollen hat noch eine andere Funktion. «Hier wurden Leitungen verlegt für Abwasser vom Berg, Licht, Belüftung und Handyempfang.»

Der Berg schläft nicht
Der Chienberg ist eine feuchte Angelegenheit. Wasser fliesst durchs Gestein und sorgt dafür, dass die Schicht mit dem Gipskeuper aufquillt wie ein Schwamm. Und das kann ganze Bergmassen bewegen – bis sich die Fahrbahn anhebt. Im Tunnelbau gilt also das Gegenteil vom Matthäus­evangelium – «Glaube versetzt Berge» ist fehl am Platz. Um die Tunnelröhre möglichst sicher und stabil halten
zu können, setzen die Tunnelbauer höchstens auf ihre Schutzpatronin, die Heilige Barbara, aber noch viel mehr auf modernste Bautechnik und stetige Überwachung. «Als Ingenieur finde ich den Chienberg hochspannend», sagt Hess und schmunzelt. Der Strasseninspektor sieht den Tunnel aber auch mit den Augen des Steuerzahlers. Denn in den Katakomben des Chienbergs wurden zwar keine Leichen, dafür aber die Hoffnung auf mässige Kosten begraben.
Die Tunnelröhre steht auf Betonpfeilern, sogenannten Knautschkörpern. Sie können die Bewegungen des Bergs bis zu einem gewissen Grad abfangen und ausbalancieren. Als weitere Massnahme ist der Tunnel nach unten verankert, damit es Gegendruck gibt. Die Anker funktionieren wie Schrauben, sind bis zu 25 Meter tief und halten 160 Tonnen Druck aus. Bewegt sich der Berg zu stark, verbiegt es die Anker, von ­denen einer 20?000 Franken kostet. Deshalb werden sie wenn möglich vorher gelockert, das gequollene Material abgetragen und mit Beton wieder aufgefüllt. Danach kann man den Anker wiederverwenden. «Genau dies machen wir während der nächtlichen Tunnelsperrungen», erklärt Hess. Einige der Anker und Knautsch­elemente mussten ersetzt werden.
Die «Volkstimme»-Leser sehen zwischen den Balken die natürliche Gesteinswand des Chienbergs. Dort wurde die Tunnelwand «freigeschnitten», um sie zusätzlich vom Druck zu befreien. «Ein Tunnel ist halt nicht einfach ein Loch im Berg», sagt «Augenschein»-Besucher Martin Eichenberger aus Lausen. «Man kann nicht alles voraussehen, was innerhalb des Bergs passiert. » Und auch Strasseninspektor Hess weiss: «Die Geologie können wir nicht ändern.» Dass der Berg nicht schläft, erkennen die «Augenschein»-Gäste überall: Zwischen all den Ankern hat es Risse im Beton, die Knautschkörper bröckeln, der Fels tropft. Mal leiser, mal lauter hört das Ohr währenddessen die Lastwagen und Personenwagen, die über den Köpfen vorbeiknattern.
«Augenschein»-Teilnehmerin He­lene Ehrsam aus Rümlingen steigt gescheiter aus dem Berg, als sie hineingeklettert ist: «Ich habe schon vorher Bilder der Anker gesehen. Jetzt weiss ich genau, wie sie funktionieren.»

Umfahrung Sissach
Sissach hat deutlich weniger Durchgangsverkehr, seit der Chienbergtunnel 2006 eröffnet wurde. 1988 sagte das Stimmvolk deshalb Ja zur Umfahrung Sissach. Damals herrschte noch Ahnungslosigkeit über die Sorgen, die der Berg dem Kanton später bereiten wird: Zwei Jahre nach dem Anstich im Jahr 2000 stürzte der Rohbau ein und 2004  stellten die Bauleute Risse in der Tunnel­wand fest. Im Landrat stand sogar die Aufgabe des Bauprojekts zur Debatte. Die massiven Erdbewegungen erforderten eine fortschrittliche Lösung: Knautschkörper und Gleitanker gegen den Quelldruck, zudem regelmässige Kontrolle und Überwachung. Der Tunnel kostete schlussendlich 330 statt wie erwartet 180 Millionen Franken. Die Unterhaltskosten liegen bisher innerhalb der Prognosen.

Volksstimme Nr. 82 / 2013