Augenschein vom 13.07.2001   Alle       

Das lange Gedächtnis des Staates

Das lange Gedächtnis des Staates Staatsarchivarin Regula Nebiker führte die interessierte Schar in die Geheimnisse des Staatsarchivs ein.
Beim zweiten «Augenschein» der «Volksstimme» wurden rund 20 Leserinnen und Leser in die Geheimnisse des Staatsarchives eingeführt. Staatsarchivarin Regula Nebiker räumte mit alten Vorurteilen auf und zeigte den interessierten Besuchern wahre Schätze aus der Baselbieter Geschichte.

los. «Wir sind absolute Wegwerf-Spezialisten.» Regula Nebiker, seit einem halben Jahr Staatsarchivarin im Baselbieter Staatsarchiv in Lies tal, räumte zu Beginn der «Volksstimme»-Augenschein-Führung mit jeglichen Vorurteilen gegenüber Archivaren auf. Mit Staunen hörten die rund 20 Leserinnen und Leser von der täglichen Arbeit der Staatsarchivarin, die beileibe nicht nur darin besteht, mittelalterliche Schriften zu hegen und zu pflegen.
Das Staatsarchiv ist wirklich das Gedächtnis des Staates. Alle Beschlüsse, Protokolle und sons tige Akten der Baselbieter Verwaltung werden im Staats archiv aufbewahrt und je nachdem entsorgt. Bevor nämlich eine Akte ins Archiv aufge nommen wird, entscheiden die Archivmitarbeiter, ob die Akte auch wirklich genug wichtig ist.

Früher sorgfältiger
Wer denkt, dass Archive in der Zeit von Computer und Internet spielend einfach zu erstellen sind, täuscht sich. Früher hätten sich die Leute viel mehr Mühe gegeben bei der Archivierung von wichtigen Dokumenten, so Nebiker. «Die Leute schrieben von Hand auf wertvolles Papier. Heute passiert es schnell, dass ein Dokument von einer Festplatte gelöscht wird und für immer verloren ist.»

Gedankenpuzzles
Nach der kurzweiligen Einführung durch Nebiker drangen die Besucherinnen und Besucher in Bereiche vor, die ihnen normalerweise verwehrt sind: die Maga zine – das Herzstück eines jeden Archivs. Kilometerlang reihen sich braune Schachteln voller Akten der Baselbieter Verwaltung. Von aussen betrachtet sehen die Schachteln eher langweilig aus – verweilt man sich aber mit dem Inhalt, kann man, falls man das System begreift, unzählige Perlen finden.
«Als Archivarin braucht es vor allem viel Fantasie», so Nebiker. Denn trotz einer riesigen Datenbank, tausenden von Mikrofilmen und sonstigen Ver zeichnissen, findet man nicht jede Information auf Anhieb. Es brauche viel Musse und Zeit, um die verschiedenen «Gedankenpuzzles» zusammenzufügen, sinnierte Nebiker.

Öffentlich oder nicht
Auf dem Rundgang durch das Staatsarchiv tauchte die Frage nach der Zugänglichkeit der Akten auf. Die Staatsar chivarin ist Verfechterin einer offenen Informationspolitik, wo bei man um gewisse Einschränkungen nicht vorbei kommt: «Grundsätzlich sind alle Akten öffentlich, mit der Auflage des Personenschutzes», so Nebiker. Ausserdem besteht eine 50-jährige Schutzfrist für Akten jeglicher Art. Aber auch diese Frist ist hinfällig, wenn die Unterlagen nicht Personen misskreditieren würden.
Nebiker würde sich wünschen, dass mehr Leute den Weg ins Staatsarchiv finden und dieses enorme angehäufte Wissen besser genützt würde. Eine gute Nutzungsrate verzeichnen die Kirchenbücher aus allen Gemeinden, die im Staatsarchiv aufbewahrt werden. Als schweizweit einziges Archiv lässt das Baselbieter Staatsarchiv Hobby-Familienforscher in den originalen Kirchenbüchern nach ihren Nachfahren suchen – eine heikle Sache. Nebiker: «In Zukunft müssen wir eine andere Lösung finden, die Bücher leiden unter der Nutzung einfach zu stark», man bedenke auch, dass die Totalrestauration eines einzigen Buches rund 25000 Franken kostet.
Der zweite «Renner» des Staatsarchivs ist die lücken lose Sammlung aller Bauge suche und eingereichter Baupläne des Kantons. Es sind die einzigen Unterlagen, welche ausgelehnt werden dürfen. Hierfür verlangt das Archiv aber eine Gebühr, weil die neuen Bauherrn durch diese alten Baupläne viel Geld sparen können.

Schätze im Keller
Im Keller des Archivs taten sich den Besuchern wahre Schätze auf. Zum einen gab es die so genannten «Meyer-Karten» zu bestaunen, auf denen jede Baselbieter Gemeinde in schillernden Farben verewigt ist und zum anderen lagern dort die Gerichtsakten.
Manch einer der Besucher wähnte hinter den dicken Schranktüren so manches kleines Geheimnis, welches zu lüften wäre, aber hier blieb Regula Nebiker hart. Gerichtsakten einzusehen ist relativ heikel. Zu gross die Chance, irgendwelchen lebende Nachfahren von Verurteilten vor den Kopf zu stossen.

Umbau geplant
Während der Führung machte Nebiker die Besucher auch einige Male auf gewisse Mängel im Staatsarchiv aufmerksam. Vordringlich ist natürlich die Raumfrage. «Gewisse Dokumente müssen wir notdürftig zusammenrollen und stapeln. Dann bleibt uns jeweils die Hoffnung, dass niemand nach diesen Akten nachfragt», sagte Nebiker mit einem Lächeln.
Das Raumproblem wird in Kürze aber gelöst. Ziel von Nebiker ist es, im Jahre 2003 mit einem Anbau an das Staatsarchiv beginnen zu können.
Im Neubau werden auch andere Probleme gelöst sein: Die Magazine werden klimatisiert sein und das gesamte Gebäude besucherfreundlicher gemacht. Nebiker hofft mit diesen Massnahmen den Leuten das «Gedächtnis des Staates» ein wenig schmackhafter zu machen.

(Bild Rolf Wirz)

Volksstimme Nr. 84 / 2001